Für junge Menschen mit Behinderung endet die Schulpflicht meist ohne qualifizierenden Abschluss. In Förderschulen sind solche Abschlüsse in der Regel nicht vorgesehen und in Inklusionsschulen fehlen häufig dafür ausreichende sonderpädagogische Ressourcen. Zum Übergang in das Berufsleben und zur Wahrnehmung ihres Rechts auf Teilhabe am Arbeitsleben stehen ihnen dann verschiedene Möglichkeiten offen. Eine davon ist der Eintritt in die Werkstatt über das Eingangsverfahren und den Berufsbildungsbereich. Hier werden zwar berufliche Fähigkeiten und Kompetenzen vermittelt und erlernt, jedoch bleibt der Weg zu einer zertifizierten Qualifikation, wie auch bei den meisten Alternativen zur Werkstatt, sehr oft noch verschlossen.
Dabei ist es vor allem das Erreichen anerkannter Abschlüsse, was den erfolgreichen Weg in das Berufsleben und den Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt ermöglicht. In unserem System der Eingliederungshilfe ist allerdings der nachträgliche Erwerb eines Schulabschlusses bislang nicht vorgesehen.
Mit Initiative und Engagement über das System hinaus und mit entsprechender Kompetenz ist es aber dennoch möglich. Das bewiesen 8 Beschäftigte und Teilnehmende des Hauptschulabschluss-Kurses (HSA-Kurs) der Elbe-Weser Welten. Sie haben es geschafft und im Dezember 2023 die schriftliche und mündliche Abschlussprüfung erfolgreich bestanden. Manche der Absolventen auf ausgelagerten Arbeitsplätzen bei Beschäftigungsgebern auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt stehen damit nun vor dem nächsten Schritt. Sie wagen den Übergang aus der Werkstatt in ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis oder in die Berufsausbildung bei einem externen Unternehmen. Durch den erfolgreichen Schulabschluss erleben sie Selbstwirksamkeit, gewinnen Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen und überzeugen damit auch ihre zukünftigen Arbeitgeber und Ausbildungsbetriebe.
Im Rahmen einer feierlichen Übergabe am 29. Februar 2024 haben die Absolventen ihr Hauptschulzeugnis überreicht bekommen. Wir freuen uns, dass die Beschäftigten und Teilnehmende mit Ihren Familien vor Ort waren und gratulieren nochmal ganz herzlich:
Melissa Busse – Bistro
Tabea Lohfeld – Blatt für Blatt
Sven Lohmann – Blatt für Blatt
Ana-Luisa Marques-Ramos – WSC
David Metzler – AWI Kantine
Laas Stürcken – Außenarbeitsplätze
Mit über 20 Personen bestehend aus Absolventen, Mitarbeitern sowie der VHS war die feierliche Übergabe eine rundum gelungene Veranstaltung.
Wie kam es dazu, dass die EWW nun bereits den zweiten Kurs haben durchführen können und den dritten gerade vorbereiten?
Drei wesentliche Elemente müssen gegeben sein oder geschaffen werden:
- Bedarf der Beschäftigten d.h. das Erkennen der Chancen sowie die Motivation und das Potenzial, den Hauptschulabschluss zu erreichen.
- Ein Bildungsträger mit sonderpädagogischer Kompetenz und Befähigung zum Unterricht für die Vorbereitung auf die Nichtschüler-Prüfung gemäß der „Verordnung über die Prüfung zum Erwerb der Abschlüsse der Sekundarstufe I“ des Bundeslandes (hier: Niedersachsen).
- Spendengelder zur Finanzierung des Projekts, da eine Refinanzierung über die Leistungsträger nicht erfolgt und das Angebot nicht aus dem Arbeitsergebnis erwirtschaftet werden soll.
Die Rückmeldungen auf die Ausschreibung durch den EWW Fachdienst Bildung & Qualifizierung (BQ) unter allen Nutzenden der Werkstatt belegen immer wieder das hohe Interesse an dem Angebot. Die jeweils zur Verfügung stehenden 11-15 Plätze können regelmäßig belegt werden. Alle Interessierten werden vorab zu einem dreimonatigen Vorbereitungskurs eingeladen. In dessen Verlauf werden den Teilnehmenden die Grundkompetenzen für den Besuch des anschließenden HSA-Kurses vermittelt und sie können sich bereits mit dem differenzierten Unterrichtsformat vertraut machen.
Als länderübergreifend arbeitendes Unternehmen betreiben die EWW Standorte in Bremen und Niedersachsen. Mit der Volkshochschule Landkreis Cuxhaven gGmbH konnte eine bestens motivierte und qualifizierte Bildungsträgerin als Kooperationspartnerin gefunden werden. In enger Zusammenarbeit zwischen den Fachkräften der EWW und der VHS wurde ein pädagogisches Konzept entwickelt, welches an die individuelle Bildungsbiografie der Teilnehmenden anknüpft und auf Wirksamkeit und Nachhaltigkeit des Lernens ausgerichtet ist. Es beruht auf den Elementen der direkten Instruktion und der Binnendifferenzierung (ein Begriff, der hier eine andere Bedeutung als im Fachkonzept der Agentur für Arbeit für das Eingangsverfahren und den Berufsbildungsbereich einnimmt).
Im Gegensatz zu offenen Lernformen wie z.B. Projektarbeit bietet das Format der direkten Instruktion den Lernenden eine stützende Struktur. Es ermöglicht ein störungsfreies Lernen, das Aufsetzen auf individuell vorhandenem Vorwissen und der individuellen Lebenswelt der Lernenden und das Vermeiden von Überforderung einzelner Teilnehmender.
Die Binnendifferenzierung als zweites Element erfolgt nach den Merkmalen: Inhalt, Methodik und Sozialform. Das Merkmal Inhalt berücksichtigt die individuellen sprachlichen Voraussetzungen der Lernenden und unterschiedliche Schwierigkeitsgrade in den Aufgabenstellungen. Bei der methodischen Differenzierung geht es um die individuellen Lernaktivitäten. Die Dozenten unterstützen bei Bedarf mit schriftlichen Hilfestellungen, wie z.B. Checklisten, oder persönlichen Hilfestellungen, wie z.B. die Untergliederung von Aufgabenstellungen in kleinteilige, gut bearbeitbare Schritte. Die Wahl zwischen Gruppen-, Partner- und Einzelarbeit schafft schließlich die individuell am besten geeignete Sozialform für das Lernen. Beispielsweise können Texte erst in Einzelarbeit analysiert werden, um die Ergebnisse anschließend in Partnerarbeit zu vergleichen und zu ergänzen und im Rahmen einer Gruppenarbeit zu präsentieren.
Die Unterrichtsfächer des HSA beinhalten Deutsch, Mathematik, Biologie, Geschichte, Politik und Erdkunde. Im Rahmen der beschriebenen Methodik werden Arbeitsblätter und Fachbücher zur Vermittlung der prüfungsrelevanten Inhalte eingesetzt, sowie entsprechende Publikationen der Schulbuchverlage (Arbeitsbücher und -hefte z.T. in Leichter Sprache). Der Unterricht findet zweimal wöchentlich mit je 4 Unterrichtsstunden à 45 Minuten statt. Die schriftliche und mündliche Abschlussprüfung schließlich wird von den Fachdozenten unter Aufsicht der Prüfungskommissionsvorsitzenden und den Beisitzern abgenommen.
Bildung ist ein Schlüssel zu Selbstständigkeit und beruflichem Erfolg. Für Werkstatt-Beschäftige stellt der Wechsel in ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis oder in ein Ausbildungsverhältnis oft einen sehr großen beruflichen Erfolg dar. Der Erwerb des Hauptschulabschlusses öffnet Werkstatt-Beschäftigten einen neuen, einen weiteren Weg dorthin.